Klaus Weimar stellt in seinem Aufsatz über den Erzähler den Text in einer sehr interessanten Weise dar.
"Texte, so scheint es, sind recht bevölkerte Gegenden. Regelmäßig angetroffen, so sagt man, werden dort fünf Stämme." (Weimar 1994, S.496)Er impliziert damit, dass Texte wie Landschaften oder Ortschaften sind in denen die für einen Text wichtigen Personen, wie implizierte Autoren, Erzähler, Adressaten, implizierte Leser und Figuren, leben. Der Text ist also nicht mehr ein Konstrukt von Buchstaben auf Papier, sondern ein theoretischer Ort. Interessant ist auch, dass Weimar das Wort "topographisch" (S.497) in diesem Zusammenhang nennt. Ein Begriff, der eigentlich eher in der Geographie heimisch ist. (Zumindest meinte das mein Duden Fremdwörterbuch.)
In diesem Modell betrachtet ist die Frage "Wo ist der Autor?" leicht zu verstehen. Man könnte darüber nachdenken, wo in diesem Ort wohnt denn der Erzähler? Auktorialweg 10? (Um es jetzt mal ganz plumb darzustellen.) Leider ist die Betrachtung eines Textes doch nicht so simpel und Weimar verharrt zudem nicht in diesem Ortsbild des Textes, sondern beschreibt ihn als eine Art dreidimensionales, ineinander geschichtetes Kommunikationsmodell.
Eigentlich sollte ich erörtern, welchen Roman/Serie/Film ich durch Weimars Theorie besser verstehe. Leider ist es eher andersherum gelaufen. Durch die Serie die Simpsons konnte ich mir die Theorie erklären und werde meinen Gedankengang nocheinmal hier ausführen.
"Manchmal macht es den Eindruck, als stelle das topographische Modell schematisch einen Kommunikationsprozess dar, in dem ein Sender (Autor) mittels eines zweiten Senders (impliziter Autor) und eines dritten Senders (Erzähler) eine Nachricht (Geschichte mit Figuren) auf dem Wege über einen dritten Empfänger (Adressat) und einen zweiten Empfänger (implizierter Leser) übermittelt." (Weimar, 1994, S.497)
Hört sich super an! Der Kommunikationsprozess einer Geschichte ist damit ziemlich verschachtelt. Ich habe mir an den Rand eines Textes eine kleine Zeichnung dazu gemalt und plötzlich musste ich an eine Folge der Simpsons denken, die ich vor einigen Tagen gesehen hatte.
Die Familie Simpson machte einen Ausflug in eine Tropfsteinhöhle, leider brach Homer eine Tropfsteinsäule ab und löste damit aus, dass es zu einer Art Steinschlag kam und die Simpsons in einen versteckteren Gang der Höhle geschleudert wurden. Aufgrund seines Körperumfangs blieb Homer in einem zu schmalen Gang der Höhle stecken und während Marge und Bart sich auf die Suche nach einem Ausgang machten, sollte Lisa ihm eine Geschichte erzählen.
Klären wir jetzt die Situation Lisa ist die Erzählerin (dritter Sender) und Homer der Adressat (dritter Empfänger). Ich bin der Leser (in diesem Fall eher Zuschauer und erster Empfänger ) und Matt Groening (erster Sender). Damit aus auch nicht zu einfach ist komunizieren als zweiter Sender und Empfänger auch noch das Bild, dass sich Groening von mir als Zuschauer macht und das Bild, das ich von Groening habe noch miteinander.
Lisa beginnt jetzt also zu erzählen, wie sie sich zu Mister Burns Haus verlaufen hat, weil sie beide von einem wildgewordenen Elch (oder so etwas in der Art...) gejagt worden sind und letztlich mit Mister Burns auf dessen Dachboden Schutz vor dem Elch findet, der ein Stockwerk unter ihnen am toben ist. In ihrer misslichen Lage beginnt Mister Burns nun Lisa eine Geschichte zu erzählen. In dieser Geschichte handelt es davon, dass Mister Burns sein ganzes Geld verloren hat und bei Moe in der Kneipe arbeiten muss. Während einer Schicht findet Mister Burns einen Brief von Moe in dem Moe die Liebesgeschichte von ihm und der Lehrerin beschreibt und in dieser Geschichte wird wiederrum noch eine Geschichte erzählt.
"Die Kommunikationsniveaus staffeln sich perspektivisch hintereinander wie ein Hologramm sozusagen in die Tiefe des Papiers hinein. Und dann sieht man, was da eigentlich abgebildet ist , eine veritable mise en abîme nämlich, weil das topographische Modell immer wieder in sich selbst eingeschachtelt ist und sich trichterförmig nach 'hinten' ins Unendliche verliert." (Weimar (1994) S. 497)Wie Weimar beschreibt werden in dieser Folge immer mehr Geschichten ineinander verschachtelt, dass man als Zuschauer schon den Überblick verliert und nicht mehr weiß, dass die Ausgangssituation ja eigentlich nur Homer und Lisa in dieser Höhle sind. Es ist so, als würde man im Traum aus einem Traum aufwachen, man geht durch ganz unterschiedliche Sphären bis man wieder am Ausgangspunkt ist. Das ein Text solche Möglichkeiten bietet finde ich unglaublich.
Doch stellt sich nur noch eine Frage: Wo ist denn der Erzähler in diesem ganzen Konstrukt und was ist er?
Ich finde, dass man den Leser und den Erzähler mehr miteiander in Verbindung bringen sollte. Immerhin ist der Leser auf den Erzähler angewiesen. Der Erzähler übernimmt in einem Text für uns ja die Instanz des Handelnden. Ein Erzähler führt uns durch die Geschichte, wir sehen die intradiegetischen Geschehnisse nur durch die Augen des Erzählers. Als Leser ist man machtlos, man hat keine eigene Entscheidungsgewalt in einem Text, man muss das hinnehmen was kommt, man muss fühlen, was der Erzähler uns fühlen lassen will. Der Erzähler manipuliert uns in der Art wie er erzählt und Sachen darstellt. So gesehen würde ich sagen, dass der Erzähler überall in der Geschichte ist, weil wir als Leser immer nur den Teil einer Geschichte sehen, den auch der Erzähler sieht.
____________________________________________________________
Quelle: Klaus Weimar, Wo und was ist der Erzähler?, MLN, Vol. 109, No 3, German Issue (Apr., 1994), S. 495-506, veröffentlicht: The Johns Hopkins University Press
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen